Zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes heben wir die negative Religionsfreiheit und ihre positiven Folgen für die Offene Gesellschaft hervor.
Es gibt einen sehr kurzen Satz, mit dem sich das Leben in Deutschland im frühen 21. Jahrhundert sehr gut beschreiben lässt: Wir sind frei. Wir sind frei, unsere Meinung zu äußern, die Welt zu bereisen, Herrschaftsverhältnisse zu kritisieren, zu verspotten und abzuwählen. Wir sind frei, zu lieben, wen wir wollen, und zu leben, wie wir wollen – solange wir damit die Freiheiten anderer nicht einschränken. All diese Freiheiten sind im Grundgesetz verankert, und dieses Grundgesetz ist deswegen so gut geworden, weil es kurz nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verfasst wurde; das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gilt als eine der besten aller Verfassungen.
Doch eine fundamentale Freiheit, die unser Grundgesetz garantiert, wird gelegentlich etwas einseitig interpretiert: die Religionsfreiheit. Sie beinhaltet sowohl das Recht, religiös sein und diese Religion ausleben zu dürfen – „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Rechts”, wie es in Artikel 140 heißt – als auch das Recht darauf, frei von Religion sein zu dürfen. Für die meisten Menschen, die diesen Text lesen, dürfte es unvorstellbar erscheinen, zu einer Religion verpflichtet oder zu einem Glauben gezwungen zu werden. Doch damit befinden sie sich in der Geschichte und Gegenwart der Menschheit in einer absoluten Ausnahmesituation.
Halten wir also fest: Die negative Religionsfreiheit, also das Recht, sich keinen religiösen Vorschriften zu unterwerfen und keine Religionsgemeinschaft finanziell zu unterstützen, war über Jahrhunderte in Deutschland undenkbar. Und in anderen Teilen der Welt, insbesondere in islamischen Staaten, ist sie auch heute noch unvorstellbar. Dort sind Menschen oft gezwungen, religiöse Normen zu befolgen, ob sie es wollen oder nicht, und die Freiheit, konfessionsfrei zu sein, existiert überhaupt nicht. Diese historische und globale Perspektive zeigt, wie revolutionär unser Grundgesetz damals war und heute ist.
Die positive Religionsfreiheit wird in Deutschland kaum eingeschränkt. Wer sich zu einem Glauben bekennen oder ihn ausüben will – in Gemeinschaft oder allein, daheim, im Gotteshaus oder auf offener Straße – wird sich vielleicht Fragen und Kritik gefallen lassen müssen, vielleicht auch Spott oder Unverständnis; aber im Rahmen der für alle geltenden Gesetze ist jede Form von Religionsausübung explizit durch das Grundgesetz geschützt.
Die negative Religionsfreiheit hingegen wird in Deutschland noch immer systematisch verletzt – und zwar durch den Staat: Es gibt Gesetze, die nachweislich auf christlichen Überzeugungen beruhen, wie § 218 StGB und das Embryonenschutzgesetz, und Vorschriften, die religiöse Gefühle gewissermaßen unter Denkmalschutz stellen, wie den § 166 StGB, auch bekannt als Gotteslästerungsparagraph. Solche Gesetze verletzen nicht nur das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates, sie verletzen auch die negative Religionsfreiheit, indem sie alle Menschen zwingen, sich ganz bestimmten religiösen Normen zu unterwerfen.
Außerdem werden Religionsgemeinschaften in Deutschland maßgeblich aus Steuergeldern finanziert, zusätzlich zur Kirchensteuer, also tragen auch die 44% Konfessionsfreien zur Finanzierung der Religion in Deutschland bei. Und auch abgesehen von der formellen Mitgliedschaft verliert der organisierte Glaube rapide an Bedeutung: Laut EKD sind 56% der Deutschen „uneingeschränkt nicht religiös” und weitere 25% „religiös distanziert“ – wie kann man einer derart säkularen Gesellschaft noch ein Staatskirchenrecht zumuten, das religiöse Organisationen so stark vor allen anderen privilegiert?
Dabei sollte mit diesen Privilegien längst Schluss sein: Mit der Weimarer Reichsverfassung wurde das Ende der jahrhundertelangen Verflechtung von Staat und Kirchen besiegelt. Im Jahr 1919 schaffte es die größte Errungenschaft der Aufklärung in die Verfassung: Religion wurde vom politischen Machtinstrument zu einem privaten Freiheitsrecht. Das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates wurde mit dem Reichskonkordat zwar in sein Gegenteil verkehrt, aber mit der Überwindung des Nationalsozialismus und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist der religionspolitische Geist der Weimarer Republik ins Grundgesetz gelangt.
Und trotzdem gelten die Kirchenprivilegien, die Hitler mit der Katholischen Kirche ausgehandelt hat, auch heute noch: Der konfessionelle Religionsunterricht ist ein ordentliches Lehrfach, die Kirchensteuer wird vom Staat eingezogen und Religionsgemeinschaften sind nicht zivilgesellschaftlich geregelt, sondern Körperschaften des öffentlichen Rechts – um nur drei Beispiele zu nennen.
Vor allem zum Geburtstag unserer konfessionsfreien Verfassung ist diese Religionspolitik kaum erträglich. Als Zentralrat der Konfessionsfreien stellen wir fest, dass eine der wichtigsten Freiheiten des Grundgesetzes, nämlich die negative Religionsfreiheit, nur verwirklicht werden kann, wenn Religion in Deutschland nicht länger ein politisches Machtinstrument bleibt. Zum Jubiläum unserer Verfassung pochen wir auf jenen konsequent säkularen Staat, in dem Religionsgemeinschaften gleichberechtigt mit allen anderen Organisationen sind, nicht mehr und nicht weniger. Dieser säkulare Staat muss wehrhaft sein gegen die Versuche religiöser Organisationen, ihre „göttlichen Gesetze” über weltliche Gesetze zu stellen, denn:
Die Freiheit, die wir meinen, ist die Freiheit von Religion. Negative Religionsfreiheit hat positive Folgen: Ohne sie wären Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Kunstfreiheit nicht möglich; ohne sie wäre ein selbstbestimmtes Leben undenkbar; ohne sie wären alle Menschen, die keine christlichen Männer sind, noch immer nicht gleichberechtigt – vielen Dank dafür, liebes Grundgesetz, und alles Gute zum Geburtstag!