Initiativstellungnahme vom 28.11.2022 zur gesetzlichen Neuregelung der Suizidhilfe
Sehr geehrte Mitglieder des Rechtsausschusses im Deutschen Bundestag,
seit 2015 haben sich Mitgliedsverbände von uns für die Entkriminalisierung der Suizidhilfe eingesetzt – mit Erfolg: Eine Verfassungsbeschwerde gegen den § 217 StGB kam aus unseren Reihen, und in seinem Urteil ist das Bundesverfassungsgericht in weiten Teilen unserer Argumentation gefolgt. Darin haben die Karlsruher Richter sowohl die Selbstbestimmung am Lebensende zum Grundrecht erklärt als auch dem staatlichen Paternalismus eine klare Absage erteilt.
Durch die aktuellen parlamentarischen Versuche zur Neuregelung der Suizidhilfe könnte dieses bahnbrechende Urteil ausgehöhlt werden – auch wenn der verfassungswidrige Entwurf um Lars Castellucci von der notwendigen Unterstützung momentan weit entfernt ist. Doch auch die liberaleren Entwürfe um Katrin Helling-Plahr und um Renate Künast werden dem Karlsruher Urteil nicht voll gerecht, wie wir bereits im Juni 2022 dargelegt haben.
Wir plädieren weiterhin dafür, kein neues Gesetz zu verabschieden, denn seit Februar 2020 besteht dieselbe Rechtssicherheit, die vor 2015 Jahrzehnte lang bestand. Sollte der Deutsche Bundestag dennoch einen Regelungsbedarf sehen, würde eine Zusammenlegung der liberaleren Entwürfe aus unserer Perspektive drei Chancen eröffnen:
- Ein gemeinsamer Entwurf kann die Erfolgsaussichten des Entwurfs um Lars Castellucci noch weiter verringern, der den für nichtig erklärten § 217 StGB im Wortlaut wieder einführen und lediglich um sehr enge Ausnahmen sowie ein Werbeverbot à la § 219a StGB ergänzen will.
- Bei der Zusammenlegung könnte ein wichtiger Aspekt ergänzt werden, der den Entwürfen in der jetzigen Fassung fehlt: eine gesetzliche Stärkung der Prävention von Verzweiflungssuiziden.
- Vor allem aber müsste ein Kompromiss aus beiden liberalen Entwürfen jene Elemente hinter sich lassen, mit denen die Autonomie am Lebensende erneut eingeschränkt würde: die Einführung von Pflichtberatungen und Wartefristen (Helling-Plahr) sowie die Bewertung der Beweggründe der Sterbewilligen (Künast).
Mit Blick auf die heutige Expertenanhörung im Rechtsausschuss formulieren wir im Folgenden zwölf Voraussetzungen, die ein neues Gesetz zur Suizidhilfe unseres Erachtens erfüllen müsste, damit es im Einklang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts steht.
Zwölf Punkte für die Selbstbestimmung am Lebensende
In seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht eine gesetzliche Neuregelung der Suizidhilfe weder ausgeschlossen noch gefordert. Ganz explizit hat es hingegen gefordert, der Gesetzgeber müsse bei einer Neuregelung „sicherstellen, dass dem Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, hinreichend Raum zur Entfaltung und Umsetzung verbleibt.”
Entsprechend dieser Maßgabe und der weitreichenden Begründung des Urteils halten wir diese zwölf Änderungen bzw. Ergänzungen einer gesetzlichen Neuregelung für wesentlich – auch, weil das Recht auf Suizidhilfe kein theoretisches Recht bleiben darf, sondern tatsächlich in Anspruch genommen werden können muss.
- Verzweiflungssuizide durch Prävention verhindern
Ganz unabhängig von einer Neuregelung der Suizidhilfe sollte die Prävention von Verzweiflungssuiziden gesetzlich verankert sein. Dazu gehören auch der Aufbau und die Finanzierung einer tragfähigen Infrastruktur. - Keine gesetzlichen Wartefristen
Schon jetzt muss der Sterbewunsch von einer „inneren Festigkeit getragen sein”. Pauschale Wartefristen schränken das Recht auf Autonomie ein und treiben Menschen in den Verzweiflungssuizid – aber genau diese Fälle müssen verhindert werden! - Keine Beratungspflicht für Sterbewillige
Sterbehelfende sind schon jetzt dazu verpflichtet, im Rahmen von Aufklärungs- und Informationsgesprächen alle Alternativen zum Suizid aufzuzeigen. Darüber hinaus ist der Auf- und Ausbau freiwilliger und ergebnisoffener Beratungsangebote durchaus denkbar – aber: Sterbewillige dürfen nicht dazu gezwungen werden, sich von einer weiteren Instanz beraten zu lassen. - Nur hochqualifizierte Hilfsangebote zulassen
Suizidhilfe ist komplex – medizinisch, psychologisch, juristisch und ethisch. Zur Suizidhilfe und -beratung dürfen nur hochqualifizierte Personen und Organisationen zugelassen werden, die entsprechende Kenntnisse und Erfahrungen nachweisen können. Die Kontrolle der Zulassungs- verfahren muss staatlichen Behörden obliegen. - Freie Wahl der Ansprechpartner
Der Gesetzentwurf um Renate Künast sieht zwei mögliche Wege zur Suizidhilfe vor: Nur Schwerkranke dürfen sich von Ärzt:innen helfen lassen, alle anderen müssen den Weg über Behörden wählen. Eine Alternative zum ärztlich assistierten Suizid befürworten wir ausdrücklich, denn viele Ärzt:innen nehmen ihr Recht in Anspruch, keine letzte Hilfe leisten zu müssen. Behörden hingegen müssen das Medikament ausgeben, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind – aber: Sterbewillige sollen stets die freie Wahl des Zugangswegs haben! Darüber hinaus bürden Künast u.a. den Suizidwilligen einen aufwändigen bürokratischen Prozess auf, der dringend verschlankt werden muss. Die vorgesehene Pflicht zur Rechtfertigung des Sterbewunsches gegenüber den Behörden widerspricht eindeutig dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. - Keine Umkehr der Beweislast
Wenn Suizidhelfende Zweifel an der Freiverantwortlichkeit von Sterbewilligen haben, müssen sie diese Zweifel belegen. Wenn stattdessen Sterbewillige nachweisen müssten, dass sie freiverantwortlich handeln, wäre dies eine weitere Hürde – und es ist nahezu unmöglich. - Überleitungspflicht für nicht hilfsbereite Ärzte an hilfsbereite Stellen
Niemand darf zur Suizidhilfe gezwungen werden, und das ist auch gut so. Damit Suizidwillige im Falle der abgelehnten Hilfe aber nicht allein gelassen werden, sollten Ärzte dazu verpflichtet werden, solche Personen an hilfsbereite Stellen weiterzuleiten. - Verankerung der Suizidhilfe in Aus-und Weiterbildung
Damit Suizidhilfe nicht nur straffrei bleibt, sondern auch tatsächlich möglich wird, muss mehr Personal aus dem Gesundheitswesen dazu ausgebildet werden – denn mit dem demografischen Wandel, der Entkriminalisierung und der Enttabuisierung der Suizidhilfe wird der Bedarf an Suizidhilfe steigen. - Enttabuisierung der Suizidhilfe durch Aufklärung
Die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, mag anderen tragisch erscheinen, vielleicht verachtenswert. Im Falle von Verzweiflungssuiziden bei Depressionen oder Lebenskrisen ist das nachvollziehbar; diese müssen mit aller Kraft verhindert werden. Aber eine wohl überlegte und freiverantwortlich getroffene Entscheidung für einen Suizid ist das gute Recht eines jeden Menschen. Die Öffentlichkeit sollte für den Unterschied zwischen Verzweiflungstaten und dem Freitod sensibilisiert werden – auch um für das eigene Lebensende darüber informiert zu sein, dass diese Möglichkeit in Deutschland besteht. - Suizidhilfe ist auch in Pflegeeinrichtungen ein Grundrecht
Viele Träger von Pflegeheimen und Hospizen verweigern Sterbehelfenden (oft aus religiösen Gründen) den Zugang zu ihren Einrichtungen. Solche Sonderregelungen unterwandern das Machtmonopol des Staates und dürfen nicht toleriert werden. Keine Institutionen darf legale Hilfsangebote in ihren Einrichtungen verbieten oder unterbinden. - Anerkennung der Suizidhilfe als Kassenleistung
Professionelle Hilfe beim Sterben darf nicht Schwerkranken oder wohlhabenden Menschen vor- behalten sein – denn sonst werden alle anderen wieder in die Verzweiflungstat getrieben. Nach eingehender Prüfung sollte Suizidhilfe, analog zur Palliativmedizin, als ärztliche Leistung über die Krankenkasse abgerechnet werden können. - Assistierter Suizid muss als natürlicher Todesfall gelten
Momentan muss die Kriminalpolizei nach jedem assistierten Suizid Ermittlungen einleiten. In keinem der 346 Fälle, die im Jahr 2021 durchgeführt wurden, gab es polizeiliche Beanstandun- gen. Durch diese Regelung werden nicht nur die knappen Ressourcen der Polizei gebunden, sondern auch Hinterbliebene zusätzlich verstört.