Konfessionsfrei Kompakt Nr. 4

Bekenntnisfreie Schule im bekenntnisfreien Staat

Gemeinsam „Ethik“ statt getrennt „Religion“

Was tun?

Der konfessionelle Religionsunterricht (RU) gemäß Artikel 7 Grundgesetz befindet sich in einer tiefen Strukturkrise und steht in manchen Regionen Deutschlands faktisch vor dem Aus. Sinkende Zahlen konfessionell gebundener Schülerinnen und Schüler, systemische Probleme des Islamunterrichts und improvisierte – teils verfassungswidrige – Scheinlösungen erfordern ein Umdenken. Ein zukunftstaugliches Modell muss die Religions- und Weltanschauungsfreiheit wahren, Schulen als neutrale, bekenntnisfreie Orte in der religiös-weltanschaulich pluralen Gesellschaft stärken und unnötige Belastungen der öffentlichen Haushalte vermeiden. Da Schulpolitik Ländersache ist, richtet sich der folgende Vorschlag an die Bundesländer:

  • Änderung der Länder-Schulgesetze und der Verwaltungsbestimmungen mit dem Ziel: Öffentliche, staatlich getragene Schulen gelten gemäß Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz als bekenntnisfrei und müssen keinen konfessionellen RU anbieten.

Ausgangslage

Verfassungsrecht

Aufgrund des Verfassungsgebots der religiös-weltanschaulichen Neutralität ist der deutsche Staat bekenntnisfrei. Zugleich garantiert das Grundgesetz in Artikel 7 den konfessionellen Religionsunterricht (RU) an öffentlichen Schulen, sofern diese nicht „bekenntnisfreie“ Schulen sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) muss dieser Unterricht die Glaubenssätze einer bestimmten Religionsgemeinschaft „als bestehende Wahrheiten“ vermitteln und damit „konfessionell positiv“ gebunden sein.

Auffällig ist, dass der RU als einziges Schulfach ausdrücklich im Grundgesetz genannt wird. Manche sehen darin einen „Fremdkörper“, der sowohl im Grundgesetz als auch im schulischen Fächerkanon nicht zur staatlichen Neutralitätspflicht passt. Einige Stimmen plädieren dafür, die Garantie des konfessionellen Religionsunterrichts im Grundgesetz aufzuheben. Eine solche Änderung des Grundgesetzes hat hohe politische Hürden. Obwohl ein solcher Schritt unter einer weitgehend säkularisierten Bevölkerung folgerichtig wäre, fehlt es bislang an den politischen Mehrheiten. Zudem ist diese Änderung für eine Lösung des Problems nicht nötig, denn Artikel 7 Abs. 3 Grundgesetz beschreibt den RU als ordentliches Lehrfach „in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen”. In bekenntnisfreien Schulen braucht er daher nicht erteilt zu werden.

Zurzeit stehen der Bekenntnisfreiheit der Schulen, von der das Grundgesetz spricht, in fast allen Bundesländern Landesgesetze und die Schulorganisation entgegen. Abgesehen von Bremen und Berlin (Art. 141 Grundgesetz) sowie Brandenburg (seit 1996 kein „ordentliches“ Lehrfach) wurde bislang in keinem anderen Bundesland eine öffentliche, staatlich getragene Schule als bekenntnisfrei eingestuft.

Der Religionsunterricht als „ordentliches Lehrfach“

Der RU ist organisatorisch dem Staat zuzurechnen, der sämtliche Kosten inkl. Bezahlung der Lehrkräfte trägt. Formal ist der RU anderen Fächern gleichgestellt und wird benotet. Jeder Religionsgemeinschaft steht die Einrichtung eines entsprechenden Faches offen, sofern sie die Voraussetzungen dafür erfüllt, indem sie beispielsweise ihre Glaubensgrundsätze „in geordneter und verlässlicher Form“ formuliert. Damit ist ein gewisser Automatismus verbunden, in einer zunehmend entkirchlichten und pluralisierten Gesellschaft den Religionsunterricht nach Artikel 7 Grundgesetz für sehr viele Religionen und Weltanschauungen anzubieten. Diese Entwicklung hat eine multiple Problemlage erzeugt, die im Folgenden in zehn Punkten dargestellt wird.

Zehn Probleme des konfessionellen Religionsunterrichts

  1. Deutscher Sonderweg
    In anderen europäischen Ländern – etwa in Schweden, Norwegen, England oder Luxemburg – wird Religion nicht konfessionell unterrichtet bzw. wird das Phänomen „Religion“ im Rahmen eines gemeinsamen Werte- oder Ethikunterrichts behandelt. In einem Werteunterricht erhalten Schülerinnen und Schüler eine gemeinsame Grundlage in ethischen, philosophischen und religionskundlichen Themen, ohne dass sie nach der Religionszugehörigkeit ihrer Eltern separiert werden. Dieses integrative Modell fördert den Dialog zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen und leistet einen Beitrag zu mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt. Im Gegensatz dazu nimmt Deutschland mit seinem verfassungsrechtlich verankerten, konfessionell gebundenen RU eine Sonderrolle ein.

    Sogar im traditionell katholischen Polen fährt die Regierung den konfessionellen Religionsunterricht deutlich zurück. Polen gehört zu den wenigen Staaten, in denen – ähnlich wie in Deutschland, wenn auch in abgeschwächter Form – der Religionsunterricht in der Verfassung erwähnt wird. Dennoch geht man dort offenbar bewusst einen anderen Weg als in der Bundesrepublik.

  2. Neutralitätsverstoß und „landesherrliches Kirchenregiment“
    Laut dem Theologen und Ethikprofessor Hartmut Kreß (Universität Bonn) kommt der deutsche Staat seiner Aufsichtspflicht über den konfessionellen RU als Bestandteil des öffentlichen Schulwesens angesichts der Aufsplitterung des Faches nur unzureichend nach und überschreitet zugleich seine Kompetenzen. Kreß zeigt das Problem unter anderem beim bekenntnisgebundenen Islamunterricht auf. Die staatliche Konstruktion von Beiräten und staatlich gegründeten Stiftungen, wie sie in Baden-Württemberg mit der Stiftung Sunnitischer Schulrat zur Organisation des Religionsunterrichts sunnitischer Prägung als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen vorgenommen wird, verstoße gegen die verfassungsmäßige Neutralität. Der Staat wolle sich zum Zweck eines bekenntnisgebundenen Islamunterrichts islamisch-religiöse Ansprechpartner schaffen, die er in der Logik christlicher Kirchenstrukturen konstruiere, obwohl der Islam historisch wie auch theologisch ganz anders verfasst sei. Darüber hinaus repräsentieren die vom Staat beteiligten Islamverbände keineswegs die gesamte muslimische Gemeinschaft. Kreß bemängelt, dass der deutsche Staat mit solchen Konstruktionen „im Übermaß“ in den muslimisch-religiösen Binnenbereich hineinwirke und die kollektive Religionsfreiheit von Muslimen verletze. Es handele sich rechtsgeschichtlich um einen Rückfall sogar hinter die Prinzipien der Weimarer Verfassung von 1919 – hier werde ein „landesherrliches Kirchenregiment revisited“ im 21. Jahrhundert praktiziert. Kreß: „Paradoxerweise wird jetzt – ca. hundert Jahre später – in der Bundesrepublik Deutschland das Paradigma des landesherrlichen Kirchenregiments reaktiviert, indem der Staat es auf den muslimischen Bevölkerungsanteil anwendet. Es handelt sich um ‚eine historisch erklärbare deutsche Naivität‘. Mehrere Landesregierungen sind religiös tätig geworden, haben ‚über‘ die muslimische Bevölkerung entschieden und ‚für‘ sie einen bekenntnishaften RU geschaffen.“ Das alles sei nicht tragbar, denn es seien verfassungskonforme Lösungen verfügbar und konkret realisierbar, z. B. ein Islamkundeunterricht oder die Einführung eines obligatorischen neutralen Ethik-/Religionskundeunterrichts für alle oder letztlich die Errichtung bekenntnisfreier Schulen (Kreß: Religionsunterricht oder Ethikunterricht?, S. 170-173).

  3. Pädagogisch und integrationspolitisch „fatal“
    In dem Spiegel-Bestseller „Generation Allah“ beschreibt Ahmad Mansour deutsche Schulen, die der religiösen Radikalisierung unter Jugendlichen oft hilflos gegenüberstehen. Er nennt verschiedene Gründe hierfür, doch gerade den konfessionellen RU hält er für „fatal“: „Warum teilt man die Kinder auf, so dass Katholiken in Klasse A, Protestanten in Klasse B, Muslime in Klasse C gehen? Was für ein Bild bekommen die Gruppen voneinander? Eben: Die anderen sind anders!“ (Mansour: Generation Allah, S. 225).

    Diese religiöse Trennung ist nicht mehr zeitgemäß. So wie es keinen „SPD-“, „CDU-“ oder „AfD-Politikunterricht“ geben darf, in dem „bekennende“ Parteimitglieder ihre Überzeugungen an die Kinder von SPD-, CDU- oder AfD-Wählern vermitteln, sollte auch Religion unparteiisch und neutral vermittelt werden – zumal „Reli“ vollständig aus Steuergeldern finanziert wird. Auch der Hinweis, dass kein Mensch gläubig zur Welt kommt, verdeutlicht das Problem: Es gibt keine religiösen Kinder, nur Kinder religiöser Eltern. Denn die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion entsteht erst durch Erziehung und durch Sozialisation, bei der der RU eine Schlüsselrolle spielt. Konfessioneller RU dient nicht primär der Vermittlung von Wissen, sondern der Vermittlung eines bestimmten Glaubens – und damit der religiösen Beeinflussung von Kindern.

    Anders als die Aufteilung von Kindern nach dem Glauben ihrer Eltern fördert das gemeinsame Lernen die selbstbestimmte Entwicklung der Schulkinder, wirkt gesellschaftlicher Spaltung entgegen und schafft Grundlagen für ein friedliches Miteinander.

    Daher wird in der bildungs- und erziehungspolitischen Debatte dafür plädiert, Schüler zu Themen der Religion, zu Sinn- und Wertfragen nicht religiös getrennt, sondern gemeinsam zu unterrichten. Diese Position deckt sich mit der Meinung der Bevölkerung: Laut einer GfK-Umfrage von 2022 befürworten 72 Prozent der Deutschen einen „Ethikunterricht für alle“. Unter Konfessionsfreien ist die Zustimmung mit 86 Prozent besonders hoch, doch auch in allen Religionsgemeinschaften sind Mehrheiten dafür: 57 Prozent der Katholiken, 67 Prozent der Evangelischen, 60 Prozent der Muslime.

  4. Schulorganisatorischer Aufwand
    Die negativen schulorganisatorischen Konsequenzen dieser getrennt-konfessionellen Religionsunterrichte zeigen sich etwa in Hessen. Dort ist der RU gemäß § 8 des Hessischen Schulgesetzes ein ordentliches Lehrfach und wird nach den Grundsätzen verschiedener Religionsgemeinschaften konfessionsorientiert erteilt. Derzeit ist das staatliche Pflichtangebot auf 13 unterschiedliche Unterrichtsfächer angewachsen, darunter 12 verschiedene bekenntnisgebundene Unterrichte (Quelle: kultus.hessen.de/unterricht/religionsunterricht):
    – Evangelische Kirche
    – Katholische Kirche
    – Altkatholische Kirche
    – Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland
    – Alevitische Gemeinde Deutschland
    – Humanistische Gemeinschaft Hessen
    – Islamische Religionsgemeinschaft DİTİB – Hessen
    – Jüdische Gemeinde
    – Mennoniten
    – Syrisch-Orthodoxe Kirche
    – Andere orthodoxe Kirchen
    – Unitarische freie Religionsgemeinde
    Ergänzend wird in Hessen Ethikunterricht als „Ersatzfach“ für das „ordentliche Lehrfach“ Religion angeboten. Der Ethikunterricht enthält religionskundliche Elemente und soll zudem das das Verständnis für Wertvorstellungen und ethische Grundsätze und den Zugang zu philosophischen Fragen vermitteln. Der islamische bekenntnisgebundene Religionsunterricht ist in Hessen äußerst strittig. Das Bundesland versucht, sich von ihm zu trennen.

    In den anderen Bundesländern tritt diese Aufsplitterung ebenfalls in einem Ausmaß auf, das die Planung für Schulleitungen, Stundenpläne und Lehrkräfte deutlich verkompliziert. Zusätzlich entstehen auf ministerieller Ebene immer umfangreichere Aufgaben in der Rahmenplanung, der Rekrutierung und Ausbildung geeigneter Lehrkräfte sowie der Qualitätssicherung für eine Vielzahl unterschiedlicher Lehrpläne, was zu einer Überdehnung und unnötigen Belastung der Verwaltung führt.

  5. Fehlentwicklungen bei multikonfessionellen Modellen
    Kirchennahe Versuche, den Erhalt des konfessionellen Religionsunterrichtes abzusichern, indem er ausgedehnt wird und mehrere Konfessionen in einem Schulfach vereint, führen zu neuen Spannungsfeldern. Diese Modelle verfehlen das verfassungsgerichtliche Gebot klarer Bekenntnisorientierung und stoßen pädagogisch wie organisatorisch an ihre Grenzen. Zwar ändert sich die äußere Form, doch bleibt es beim „bekenntnishaften Unterricht“, der weiterhin die weltanschauliche Neutralität staatlicher Schulen infrage stellt.

    Zur Verdeutlichung zwei Beispiele:
    – Hamburg hat mit dem „Religionsunterricht für alle“ (RUfa) ein Modell eingeführt, das multikonfessionell angelegt ist: Kinder unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten werden gemeinsam von Lehrer:innen verschiedener Bekenntnisse nach einem gemeinsamen Lehrerplan unterrichtet. Der verfassungsrechtliche Anspruch, eine bestimmte religiöse Wahrheit zu vermitteln, steht hier in offenkundigem Widerspruch zu der multireligiösen, pluralistischen Praxis. Im RUfa werden somit weder die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Punkte eingehalten, noch wird ein durchgängiges Ersatzfach Ethik angeboten. Zum Beispiel haben konfessionsfreie Schüler:innen in den Klassen 1 – 6 keine Wahl, weil es kein Alternativangebot gibt.

    – In Niedersachsen soll ab dem Schuljahr 2025/2026 ein gemeinsamer evangelisch-katholischer „christlicher“ RU eingeführt werden. Obwohl die beiden Kirchen zu diesem Zweck angeben, sich inhaltlich angenähert zu haben, existiert keine einheitliche „christliche Kirche“ mit einem einheitlichen Bekenntnis. Hierdurch entstehen verfassungsrechtliche Probleme für diesen RU. Zudem ist unklar, wie ein derartiges bekenntnisgebundenes Fach („Christlicher Religionsunterricht“) klare konfessionelle Perspektiven von neutraler Information trennen kann.
    Diese „multikonfessionellen“, „konfessionell-kooperativen“ oder „christlichen“ Modelle versprechen zwar eine größere Offenheit, doch stehen sie in einem Spannungsfeld mit dem verfassungsrechtlich geforderten Prinzip der „konfessionellen Positivität und Gebundenheit“. Die Politik mag hier pragmatisch vorgehen, verstößt jedoch mehr oder weniger deutlich gegen das Grundgesetz und gegen die höchstrichterliche Rechtsprechung – bislang ohne Konsequenzen, was im Rechtsstaat kein gutes Vorbild für Schüler ist.

  6. Entkirchlichung führt zu regional implodierter Nachfrage
    Deutschlandweit ist ein starker Trend zur Entkirchlichung erkennbar, der sich in manchen Regionen besonders ausgeprägt zeigt. So sank in Mecklenburg-Vorpommern der prozentuale Anteil evangelischer und katholischer Kirchenmitglieder von der Reichsgründung im Jahr 1871 bis heute von 99 Prozent auf 16 Prozent der Bevölkerung. Allein in den vergangenen drei Jahrzehnten seit der Deutschen Einheit sank der Bevölkerungsanteil der Kirchenmitglieder auf niedrigem Niveau um weitere 40 Prozent. Im Jahr 2023 wurden im gesamten Bundesland nur 169 katholische Taufen registriert. Diese geringe Zahl, die zugleich als staatlich anerkannter Kircheneintritt gilt, hat direkte Auswirkungen auf die künftige Nachfrage nach konfessionellem RU und kann sein Fortbestehen in der bisherigen Form kaum rechtfertigen. In den anderen Bundesländern, auch in westlichen, stellt sich die Situation vergleichbar dar.

  7. Konfessioneller Religionsunterricht als Pflichtangebot, nicht als Pflichtfach
    Entgegen einer weit verbreiteten Annahme ist RU laut Grundgesetz kein verpflichtendes Fach für Schüler:innen. Das Grundgesetz schreibt dem Staat lediglich vor, bei entsprechender Nachfrage ein konfessionelles Fach anzubieten – also ein „Pflichtangebot“. Nach Artikel 7 Absatz 2 Grundgesetz entscheiden die Erziehungsberechtigten (und ab 14 Jahren die Schüler:innen selbst), ob sie an diesem Unterricht teilnehmen möchten. Bei Licht betrachtet ist der RU für die Schüler:innen damit kein echtes Pflichtfach, sondern eine besondere Art von Wahlfach.

    In der Praxis wird diese Freiwilligkeit jedoch oft durch landesrechtliche Bestimmungen eingeschränkt oder im Schullalltag gar missachtet: So knüpfen manche Bundesländer die Abmeldung an formale Erschwernisse wie feste Fristen oder zusätzliche Prüfungs-pflichten.

  8. Versetzungsrelevante Benotung des Religionsunterrichts
    Im Gegensatz zu allen anderen Fächern und dem allgemeinen Zweck schulischer Bildung, vermittelt der RU nicht in erster Linie Erkenntnisse, sondern Bekenntnisse. Trotzdem ist er versetzungsrelevant.

    In einigen Bundesländern ist der RU auch als Prüfungsfach im Abitur zugelassen. So lässt sich die Abiturnote durch Leistungen in einem Bekenntnisunterricht verbessern, die schließlich als Zugangsvoraussetzung für Studienfächer gilt, die aufgrund hoher Nach-frage durch den Numerus Clausus begrenzt sind.

  9. Das unterrichtende Personal
    Die am RU beteiligten Religionsgesellschaften haben das Recht, den Lehrkräften eine Lehrerlaubnis zu verweigern – selbst wenn diese Lehrkräfte ein einschlägig studiertes und examiniertes Unterrichtsfach vorweisen können. Oder anders: Pädagog:innen mit erstem und zweitem Staatsexamen dürfen ohne das Dokument der Vocatio (evangelisch), der Missio Canonica (katholisch), der Idschāza (islamisch) usw. in ihren Personalakten vom Staat nicht im RU eingesetzt werden. Der Maßstab dafür ist willkürlich: Bis heute sind Abweichungen in der Lehre oder fehlende Kirchenmitgliedschaft Gründe für die Nicht-Zulassung auch ausgebildeten Personals. Zum Beispiel in NRW ist die Praxis verbreitet, dass kirchliches Personal (Pfarrer, Katecheten, u.a.) angesichts eines Mangels an Lehrkräften den RU durchführen. Bei der Idschāza gibt es im Zusammenhang mit den beteiligten Islamverbänden gravierende Eingriffe in die Privatsphäre von Lehrkräften.

  10. Fiskalischer Aufwand
    Die Kosten für die konfessionellen Religionsunterrichte und deren Ausweitung auf ein Dutzend und mehr Parallelangebote sind der Öffentlichkeit weitgehend vorenthalten. Sie setzen sich aus zahlreichen Posten zusammen. Eine Berechnung stammt aus dem „Violettbuch Kirchenfinanzen“ von Carsten Frerk, der für das Jahr 2009 bundesweit knapp 26.000 vollzeitäquivalente Religionslehrkraftstellen und ein Gesamtvolumen der Finanzierung des RU von 1,7 Milliarden Euro pro Jahr nennt. Die Antwort auf eine Kleine Anfrage (Drucksache 19/14938) im Land Berlin beziffert die Kosten für den RU mit knapp 65 Millionen Euro im Schuljahr 2022/2023 bei rund 170.000 Schüler:innen, also ca. 380 Euro pro Kopf und Schuljahr.

    Umfassendere, aktuellere Daten wären jedoch nur durch Auskünfte der Landesregierungen zu ermitteln. Die Finanztransparenz – und möglicherweise auch die interne Datenerhebung – ist bisher nur unzureichend ausgeprägt. Auch die Oppositionsfraktionen in den Landtagen haben diesen Bereich bislang kaum durch parlamentarische Anfragen beleuchtet. Um Fortschritte bei der Herstellung von Transparenz über den fiskalischen Aufwand zu erzielen, könnten die im untenstehenden „Fragekatalog für die Landesregierungen und -parlamente“ formulierten Hinweise verfolgt werden.

Optionen für die Zukunft

  1. Soll das Wissen über Religion im Rahmen eines gemeinsamen bekenntnisfreien Unterrichts mit neutraler sachlicher Vermittlung von Ethik, Weltanschauungen und Religionen (vgl. Politikunterricht) gestärkt werden?
  2. Soll ein für alle verpflichtendes Schulfach Ethik/Religionskunde eingeführt werden, neben dem der bisherige konfessionelle Religionsunterricht formal aufrechterhalten bliebe?
  3. Soll der nach Konfessionen getrennte Religionsbekenntnisunterricht fortbestehen und im Zuge der gesellschaftlichen Pluralisierung auf andere Religionen wie den Islam ausgeweitet werden (auf 5, 10 oder 15 parallele Religionsunterrichte)?
  4. Sollen die Bemühungen von Religionsgesellschaften für einen überkonfessionell christlichen oder multireligiösen Unterricht trotz der verfassungsrechtlichen Probleme gestützt werden? In diesem Fall müsste für die konfessionsfreie und längst die Mehrheit bildende Schüler:innen-Gruppe aufgrund ihres Rechts auf Bildung durchgängig in allen Schularten und -stufen ein eigener Werte- bzw. Ethikunterricht eingeführt werden.

Das Grundgesetz lässt bekenntnisfreie Schulen ausdrücklich zu. Aus pädagogischen, integrationspolitischen, verfassungsrechtlichen, fiskalischen und schulorganisatorischen Gründen sollten die Bundesländer die Option (1) der bekenntnisfreien Schulen nicht blockieren, sondern ermöglichen und stärken.


Fragekatalog für die Landesregierungen und -parlamente

  1. Fiskalischer Aufwand des Staates
    1.1. Wie viele vollzeitäquivalente Lehrkräfte sind ganz oder teilweise im Religionsunterricht (RU) tätig (aufgeschlüsselt nach Religionsgemeinschaften)?
    1.2. Mit welchen Examina sind die RU-Lehrkräfte ausgestattet und wer ist ihr Anstellungsträger (z. B. staatlich oder kirchliche Katechet:innen, wie in NRW noch verbreitet)?
    1.3. Wie hoch sind die jährlichen durchschnittlichen Kosten pro vollzeitäquivalenter Lehrkraft, die RU erteilt?
    1.4. Welche Kosten entstehen für die Ausbildung und Fortbildung von Religionslehrkräften?
    1.5. Wie hoch sind die Pensionslasten für Religionslehrkräfte?
    1.6. Wie hoch sind die Kosten für die Entwicklung und Bereitstellung von Lehrmaterialien sowie die Erstellung und Umsetzung der Rahmenlehrpläne für den RU?
    1.7. Wie hoch sind die Kosten für die genutzten Räumlichkeiten (z. B. für Betrieb, Instandhaltung)?

  2. Organisatorischer Aufwand
    2.1. Wie viele unterschiedliche konfessionelle Religionsunterrichtsangebote werden bereitgestellt?
    2.2. Wie viele Schüler besuchen die einzelnen bekenntnisgebundenen Religionsunterrichte (aufgeschlüsselt nach Religionsgemeinschaften)?
    2.3. Wie viele Schulen müssen organisatorisch mehrere Religionsunterrichtsfächer parallel anbieten, und welche Herausforderungen entstehen dadurch (z. B. Stundenpläne, Raumplanung)?
    2.4. Welche Mindestteilnehmerzahlen sind pro Religionsklasse vorgesehen, und wie viele Klassen wurden mit Unterschreitung dieser Mindestzahl dennoch durchgeführt?
    2.5. Welche ministeriellen Herausforderungen (z. B. Rahmenplanung, Lehrermangel, Qualitätssicherung) entstehen durch die Vielfalt der Religionsunterrichte?
    2.6. Wie wird die Erteilung von Lehrerlaubnissen (Missio canonica, Vocatio, Idschāza etc.) für den RU gehandhabt, und welche Auswirkungen hat dies auf den Lehrkräftebedarf sowie auf Bewerber ohne entsprechendes Bekenntnis? Gibt es Beschwerden von Lehrkräften und Bewerbern? Lässt es sich praktisch überhaupt durchhalten, von Lehrkräften eine solche religiöse Lehrerlaubnis zu verlangen?
    2.7. Wie ist die Datenerhebung geregelt, um verlässliche Aussagen zur Kostenentwicklung (Personalkosten, Ausbildungskosten, Pensionslasten, Raumgestellung, Unterrichtsmaterialien etc.) und organisatorischen Herausforderungen des Religionsunterrichts treffen zu können? Welche Maßnahmen sollen Transparenz sicherstellen?

  3. Mehraufwand und Entlastung
    3.1. Was ist der fiskalische und schulorganisatorische Mehraufwand eines Angebotes von mehreren konfessionellen Religionsunterrichtsfächern oder eines bi- oder multikonfessionellen Unterrichts im Vergleich zu einem neutralen Unterrichtsfach? Welche Einsparpotenziale und organisatorischen Entlastungen sind möglich?
    3.2. Welche gesetzgeberischen und administrativen Änderungen sind notwendig, um die öffentlichen, staatlich getragenen Schulen zur „bekenntnisfreien Schule“ nach Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz zu erklären oder einzelnen Schulen den Freiraum zu geben, sich entsprechend umzuwandeln?

  4. Pädagogische und integrationspolitische Wirkungen
    4.1. Was sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich Bildungszielen und Kompetenzen zwischen bekenntnisgebundenem RU und einem bekenntnisfreien Fach mit religionskundlichen Elementen, wie gemeinsamem Werte- oder Ethikunterricht?
    4.2. Welche Unterschiede bestehen in der Vermittlung von ethischer Urteilsfähigkeit und sozialer Kompetenz zwischen bekenntnisgebundenem und bekenntnisfreiem Unterricht?
    4.3. Welche Rolle spielen landesspezifische Altersgrenzen für die Religionsmündigkeit (z. B. 14 Jahre oder 18 Jahre) bei der Wahl bzw. Abwahl des Religionsunterrichts?
    4.4. Wie wird gewährleistet, dass die negative Religionsfreiheit von Schülern effektiv respektiert wird?
    4.5. Welche Auswirkungen hat ein religionskundliches Fach mit gemeinsamem Lernen im Vergleich zum religiös getrennten Bekenntnisunterricht auf den sozialen Zusammenhalt, die Integration der Schüler sowie das Gemeinschaftsgefühl innerhalb von Klassen und Schulen, insbesondere in heterogenen Schülergruppen?

Empfehlung für eine zeitliche Dimension

Um Entwicklungen und Trends in den Kosten oder der Organisation des Religionsunterrichts zu erkennen und transparent zu machen, sollte bei geeigneten Fragen eine zeitliche Dimension hinzugefügt werden, z. B. Entwicklung in den letzten 10 Jahren und zu den Planungen für die nächsten 10 Jahre.

Weiterführende Informationen

  • Dieter Galas: Bekenntnisfreie Schulen, in: E&W Niedersachsen – Die Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Niedersachsen, Juni 2023, S. 12–13 (archiviert)
  • Hartmut Kreß: Religionsunterricht, Religionskunde und die bekenntnisfreie Schule, in: NJOZ – Neue Juristische Online-Zeitschrift. 2020, 1537
  • Hartmut Kreß: Religionsunterricht oder Ethikunterricht? Entstehung des Religionsunterrichts – Rechtsentwicklung und heutige Rechtslage – politischer Entscheidungsbedarf (=Schriften zum Weltanschauungsrecht, Band 3), Nomos, Baden-Baden, 2022. Open Access: doi.org/10.5771/9783748932116
  • Hartmut Kreß: Religionsunterricht 4.0 und Christlicher Religionsunterricht? Neuer Diskussionsbedarf zum konfessionellen Religionsunterricht aufgrund aktueller Publikationen, in: Weltanschauungsrecht Aktuell, Nr. 10, Oktober 2024 (archiviert)
  • Gerhard Lein: Gemeinsamer Werteunterricht in einer Schule für alle, in: Die Schule für alle – GGG Magazin 2024/4 der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule – Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens (archiviert)
  • Michael Rux: Konfessioneller Religionsunterricht oder Ethik für alle? – Seit 175 Jahren „Forderung des Volkes“, in: bildung & wissenschaft, 11/2022, GEW Baden-Württemberg, S. 38–39 (archiviert)
  • Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Auswertung Religionsunterricht Schuljahr 2023/24. 15.Oktober 2024 (archiviert)
  • SPD AKSH: Resolution „Bekenntnisfreie Schulen einführen“, Jahrestagung 2024 des Arbeitskreises Säkularität und Humanismus in der SPD (archiviert)
  • Joachim Wagner: Lehren sollt ihr, nicht bekehren. Der bekenntnisgebundene Religionsunterricht der christlichen Kirchen ist schon lange nicht mehr zeitgemäß. Schafft ihn ab!, in: ZEIT Nr. 53/2020 (archiviert)
  • Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Islamischer Religionsunterricht an Schulen. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen und Umsetzung in den Bundesländern. Sachstand WD 8 – 3000 – 065/21 (archiviert)


Erstellt von Philipp Möller und Lutz Neumann im Rahmen des Projektes Artikel 140 für den Zentralrat der Konfessionsfreien – die NGO für säkulare Politik in Deutschland. Beratend haben mitgewirkt: Susanne Gondermann, Vorsitzende der Bundesfachgruppe Gesamtschulen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Gerhard Lein, Schulleiter a.D. und Gründungsvorstand des Arbeitskreises Säkularität und Humanismus in der SPD (SPD AKSH).

Diese Publikation darf gemäß den Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz CC BY-ND 4.0 DE
(Attribution – No Derivative Works 4.0 Germany) frei vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich
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