Liebe Konfessionsfreie,
der Einsatz für säkulare Politik in Deutschland ist oft frustrierend, doch in den letzten Wochen gab es jede Menge Grund zur konfessionsfreien Freude:
Beide Gesetzentwürfe zur Suizidhilfe wurden abgelehnt, die riesigen Kirchenaustrittszahlen von 2022 legen politische Konsequenzen nahe und ein Präzedenzfall in Sachen sexueller Gewalt gibt Grund zur Hoffnung auf Gerechtigkeit. In der FAZ wurde die Caritas-Legende entzaubert, im Deutschlandfunk hat unser Vorsitzender Philipp Möller ein verfassungs- und zeitgemäßes Verhältnis von Staat und Kirche skizziert und eine Umfrage ergibt, dass drei Viertel aller Deutschen die Kirchensteuer für überholt halten. Nur ein einziges heißes Eisen müssen wir am Ende noch anpacken – dann entlassen wir Sie und uns in den Sommer.
Viel Spaß beim Lesen wünscht
Ihr und Euer Team vom Zentralrat der Konfessionsfreien
Immer mehr Menschen entscheiden sich für ein Leben in Konfessionsfreiheit
Das „Säkulare Jahrzehnt” ist in voller Fahrt: Im Jahr 2022 sind ziemlich genau 900.000 Menschen aus der evangelischen und der katholischen Kirche ausgetreten. Das sind rund 3500 Austritte pro Wochentag oder etwa 433 pro offene Stunde der Kirchenaustrittsstellen – kein Wunder, dass die nicht hinterherkommen.
Ein paar Details: Die Austritte aus der evangelischen Kirche sind gegenüber dem Vorjahr um 36 Prozent gestiegen, und zwar von 280.000 auf 380.000. Die katholische Kirche konnte ihre Austritte sogar um 45 Prozent steigern: von 360.000 auf über 520.000 Personen. Zugleich hat sie rund 160.000 neue Mitglieder gewonnen, wobei 96 Prozent davon wohl unfreiwillig beigetreten wurden – es waren Taufen.
In einer Pressemitteilung haben wir politische Konsequenzen aus dieser „Abstimmung mit den Füßen“ gefordert, mit der die Menschen massenweise aus den Kirchen laufen:
Zu einer dieser Forderungen gehört auch die Abschaffung der Kirchensteuer, denn:
- Sie ist einer der besten Belege dafür, dass Deutschland kein säkularer Staat ist.
- Sie wurde in ihrer heutigen Form von den Nazis eingeführt (Konfession auf der Lohnsteuerkarte).
- Sie führt laut Subventionsbericht durch ihre volle Absetzbarkeit von der Lohnsteuer zu Steuermindereinnahmen in Höhe von 4 Milliarden Euro pro Jahr.
- Und sie wird nach einer neuesten Umfrage von drei Viertel der Deutschen abgelehnt:
Solche Nachrichten sind ein weiteres Indiz für Deutschlands tiefgreifenden Kulturwandel, aber einer der wichtigsten Sätze steht etwas versteckt im Beitrag:
“In der Umfrage bezeichneten immerhin 61 Prozent aller Befragten die karitativen Aufgaben der Kirche in Kindergärten, Krankenhäusern und der Altenpflege als wichtig oder sogar sehr wichtig.”
Dieser „Caritas-Legende”, wie Dr. Carsten Frerk sie getauft hat, ist die FAZ sehr deutlich begegnet:
„Die kirchliche Nächstenliebe speist sich nicht mit kirchlichem Geld”, bringt es der Autor auf den Punkt: „Der Sozialstaat geht nicht verloren, sollten die Kirchen untergehen. Er hätte auch kein Finanzierungsproblem. Das fehlende Geld könnte er sich zurückholen, indem er beispielsweise den Kirchen einen Teil ihrer Privilegien streicht.”
Damit stellt die FAZ richtig, was Teile des öffentlich-rechtlichen Rundfunks falsch darstellen:
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk darf nicht für Kirchenpropaganda missbraucht werden. Diese und andere säkulare Themen hat unser Vorsitzender Philipp Möller im Deutschlandfunk diskutiert. Wie kritisch müssen wir über das Reichskonkordat sprechen? Welche Rolle spielen Kirchen noch in Deutschland? Und wieso wird die Verfassung seit über 100 Jahren ignoriert? Antworten darauf gibt’s hier:
Hier können Sie den gesamten Beitrag hören:
Doch während immer mehr Menschen aus der Kirche austreten, gilt auch: Die politische Macht der Gotteslobby ist erheblich größer als ihre gesellschaftliche Bedeutung. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass Religionsgemeinschaften vom Lobbyregistergesetz befreit sind – ihre lobbyistischen Aktivitäten können also im Verborgenen stattfinden, was wir anlässlich einer Bundestagsdebatte scharf kritisiert haben:
„In einer Kirchenrepublik Deutschland hat das Geklüngel von Staat und Kirche vielleicht niemanden gestört, aber diese Zeiten sind vorbei“ – so haben wir es in unserer ausführlichen Pressemitteilung ausgedrückt:
“Um ein effektives Lobbyregister zu schaffen, müssen alle Ausnahmen aus dem Lobbyregister gestrichen werden”, findet auch Transparency International. “Es kann nicht sein, dass einflussreiche Lobbygruppen wie Kirchen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände vor allem aus politischen Gründen weiterhin von der Registrierungspflicht befreit bleiben sollen.”
Sexuelle Gewalt in Kirchen: Der Staat hat tatenlos zugeschaut
Im Kampf gegen das organisierte sexuelle Verbrechen in den Kirchen gibt es gute Nachrichten: Die Kölner Staatsanwaltschaft hat mehrere Räumlichkeiten des Bistums durchsucht, weil Kardinal Woelki im Verdacht steht, falsche eidesstattliche Versicherungen abgegeben zu haben. Unsere Botschaft dazu lautet:
Die Aktionsgruppe “11.Gebot” hat den Fall Woelki mit einer Skulptur von Jacques Tilly veranschaulicht und ist damit in der Tagesschau gelandet:
Im Humanistischen Pressedienst hat Gisa Bodenstein ausführlich beschrieben, welche Gemengelage zu der Aktion in Köln geführt hat. Mit einer Portion Ironie könnten wir sagen, dass jeder Tag, in dem Woelki noch im Amt ist, ein guter Tag für den Säkularismus ist – weil das “System Woelki” wie kaum ein anderes Phänomen für Kirchenaustritte sorgt, die im Kampf gegen Kirchenprivilegien durchaus hilfreich sind.
Frei von jeder Ironie steht das “System Woelki” aber für das Vertuschen der sexuellen Gewalt in Kirchen, und davor hat der deutsche Staat jahrzehntelang die Augen verschlossen. Umso wichtiger ist es, dass allen nachgewiesenen Fällen auch Urteile zu Schadensersatzzahlungen folgen. Dass die Kirche die Signalwirkung des ersten sechsstelligen Schmerzensgelds für einen Messdiener (noch?) nicht versteht, hat die stellvertretende Direktorin des Instituts für Weltanschauungsrecht Jessica Hamed im hpd herausgearbeitet; einige Details aus dem Bericht des ZDF sind schockierend.
Doch schon steht ein zweiter Fall im Raum: Ein bereits verurteilter Pfarrer hat seine Pflegetochter vielfach vergewaltigt und sie schließlich zur Abtreibung gezwungen – als Vertreter einer Organisation, die den Schwangerschaftsabbruch seit jeher verteufelt. Die 830.000 Euro Schmerzensgeld dürften das geringste Problem für das Bistum Köln darstellen, denn der Umgang der Kirchen mit ihren eigenen sexuellen Verbrechen gilt als wichtigster Grund für den Austritt.
Unsere Kritik richtet sich aber nur in zweiter Linie an die Kirchen, von der wir als Täter-Organisation nichts anderes erwarten, als dass sie ihre eigenen Verbrechen vertuschen will; auch die Doppelmoral der Kirchen ist nichts Neues. In erster Linie kritisieren wir den Staat, dessen Verantwortliche diesen Verbrechen viel zu lange tatenlos zugesehen haben – aus welchem Grund auch immer. Der juristische Fortschritt im Kampf gegen die sexuellen Verbrechen in den Kirchen ist erfreulich, aber er sollte eine Selbstverständlichkeit sein.
Suizidhilfe ist und bleibt legal
Erfreulicher sind die Nachrichten aus dem Bereich der Suizidhilfe. Anfang Juli hat der Bundestag beide Gesetzentwürfe abgelehnt, die zur Abstimmung standen. Nachdem wir genau das mehrfach gefordert haben, lautete unsere spontane Reaktion:
Seit dem Karlsruher Urteil von 2020 ist die Suizidhilfe wieder legal und bedarf keiner weiteren gesetzlichen Regelung. Das sehen viele Abgeordnete des Bundestags offenbar anders und haben einen schlechten und einen sehr schlechten Entwurf zur Abstimmung gestellt – umso wichtiger, dass beide abgelehnt wurden.
Dennoch wirft der Fall “Suizidhilfe” kein gutes Licht auf die Qualität der parlamentarischen Arbeit. Er zeigt den tiefen Graben, der zwischen dem freiheitlichen Menschenbild des Grundgesetzes und dem paternalistischen Menschenbild vieler Abgeordneter und Journalisten liegt – das haben wir in diesem Beitrag genauer dargelegt.
Islamisten und AfD sind nur Schein-Feinde
Nach so vielen guten Nachrichten, müssen wir noch ein heißes Eisen anpacken und uns dem Islam in Deutschland widmen. Die Auseinandersetzung damit könnte recht einfach sein, denn der politische Islam ist eine totalitäre Ideologie und mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht vereinbar. Doch die Auseinandersetzung damit ist aus vielen Gründen kompliziert, deswegen stellen wir erst einmal klar:
Der Islamismus ist ebenso eine Bedrohung unserer Freiheiten wie der Rechtsradikalismus. Islamismus und Fremdenfeindlichkeit sind nur Schein-Feinde, denn die beiden Extreme schaukeln sich gegenseitig hoch. Die offene Gesellschaft muss gegen all ihre Feinde verteidigt werden – ganz egal, von welcher Ideologie sie getrieben sind.
Einen etwas anderen Weg hat nun offenbar das Innenministerium eingeschlagen. An seiner 400-seitigen Studie mit dem Titel “Muslimfeindlichkeit – eine deutsche Bilanz” haben offenbar auch islamistische Verbände mitgearbeitet. Aus diesen Kreisen kommt der Begriff “Islamophobie”, mit dem jede Kritik an ihrer totalitären Ideologie zur “Islamfeindlichkeit” diffamiert wird. Von einem “unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM)”, der als Verfasser dieser Studie genannt wird, kann unter diesen Umständen keine Rede sein. Wir sagen:
Zwanzig Prozent der Deutschen gaben im Deutschlandtrend an, die AfD zu wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahlen wären. Die Gründe dafür sind sicher vielfältig; einfache Erklärungsversuche für komplexe Phänomene überlassen wir dem Populismus. Dass aber der Umgang mit dem politischen Islam dabei eine große Rolle spielt, wird immer wieder deutlich – auch im Deutschlandtrend der ARD:
Eine Zusammenarbeit des Innenministeriums mit Islamisten ist Wasser auf die Mühlen der rechten Schein-Feinde des Islamismus – und zugleich Öl ins Feuer der Islamisten, die schon lange und erfolgreich am Frieden Europas zündeln. Wir finden deshalb: Wer den Zustrom zur AfD und den brandgefährlichen Islamismus stoppen will, muss politisch deeskalieren und auch sprachlich abrüsten.
Jedes Twitter-Gewitter, jeder Shitstorm und jeder Sturm der Entrüstung stärkt die Extremisten und schwächt die schweigende Mitte der Gesellschaft – selbst wenn er „gut gemeint“ ist und die „richtige Sache“ vertritt. Deswegen wollen wir als Zentralrat der Konfessionsfreien immer so sachlich wie möglich argumentieren, wollen keine Personen angreifen, sondern stets ihre Positionen und Handlungen; selbst die Skandale wollen wir nicht weiter skandalisieren. Identitätspolitik und Polarisierung bedrohen den gesellschaftlichen Frieden, und wir wollen kein Teil des Problems sein, sondern immer Teil der Lösung.
Kürzer notiert
➡️ Im Juni haben wir uns mit Carmen Wegge, MdB getroffen. Sie ist eine der beiden Sprecherinnen im „Arbeitskreis Säkularismus und Humanismus” in der SPD:
➡️ Die katholische Tagespost berichtet: “Große Mehrheit: Abtreibung soll keine Straftat sein”. Pro Familia hat ihre Verbandsposition zum Thema veröffentlicht und wir werden im Herbst dazu Stellung beziehen.
➡️ In einer Petition fordert ver.di gleiches Recht für kirchlich Beschäftigte. Wir haben unterzeichnet – Sie auch?
➡️ Unser Freund und Kollege Ernst-Günther Krause ist plötzlich verstorben. Er war Mitglied der Säkularen Grünen, Autor beim hpd und Initiator einer bahnbrechenden Studie zum Religionsunterricht. Wir vermissen ihn und seine fachlichen Beiträge schon jetzt. Unser Beileid gilt seiner Familie und seinen engen Freunden.
➡️ “Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) hat sich gegen ein Ende der Staatsleistungen an die Katholische Kirche und die Evangelische Kirche in Deutschland ausgesprochen”, schreibt eine katholische Presseagentur. Wir hingegen haben in einem Schreiben an alle religionspolitischen Sprecherinnen und Sprecher der SPD formuliert, warum es der einzig verantwortungsvolle Umgang mit Steuergeldern wäre – wenn das Referenzjahr das Jahr des Verfassungsauftrags, also 1919 ist.
Erholen und Ausholen
Damit endet eine ereignisreiche erste Hälfte des säkularen Jahres 2023. Während der parlamentarischen Sommerpause bereiten wir uns auf die Ausweitung des staatlichen Arbeitsrechts auf kirchliche Beschäftigte vor, setzen uns mit dem Religionsunterricht in Berlin auseinander und blicken der Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs entgegen. Und weil unsere Themen nicht immer nur beschrieben, sondern auch besprochen werden wollen, laufen die technischen und redaktionellen Vorbereitungen für YouTube und Podcast auf Hochtouren; halten Sie also Augen und Ohren offen!
Doch nun wünschen wir Ihnen erst einmal eine erholsame Auszeit – und uns auch. Die Schlagzahl der Neuigkeiten ist genau so hoch wie die Gefahr, sich davon verrückt machen zu lassen. Aber der weltanschaulich neutrale Staat lässt inzwischen seit Jahrzehnten auf sich warten … ein paar Wochen mehr halten wir jetzt auch noch aus, oder?
Danach geht’s munter weiter, verspricht: Ihr und Euer
Zentralrat der Konfessionsfreien